Mein Kaffee ist kalt und auch im Büro ist es frischer geworden. Ich werfe mir meinen Blazer über, starre die weiße Wand an, denke über meine bisherige Laufbahn nach. Ich kann auf jahrelange Erfahrung zurückblicken. Und doch hat es die letzte halbe Stunde gebraucht, um zu realisieren: Hier läuft etwas falsch.

„Hier“ ist nicht nur dieses Büro oder Unternehmen, es ist unsere Arbeitswelt. Hinter mir liegt ein Gespräch mit einer Mitarbeiterin, die das Unternehmen verlassen wird. Sie fühlt sich unverstanden, von Führungskräften allein gelassen und unter Druck gesetzt. Fehlende Klarheit, Digitalisierung als Workaround, Mismatch an Kompetenzen, Mangel an Verantwortung und Unsicherheit sind weitere Beweggründe für ihre Entscheidung.

„Resilientes und zukunftsfähiges Unternehmen“ stehe zwar überall drauf, sei aber nicht drin. Und sie hat recht. Der Mensch ist oft nur eine Nummer, eine Fußnote im Dickicht aus Normen und internen Vorgaben. Und auch diese internen Vorgaben sind oft in langen Dokumenten oder schönen Grafiken dargestellt, im Alltag aber leben sie nicht und das Unternehmen erstarrt bei Unsicherheiten und Krisen, anstatt zu handeln. Mein Blick fällt auf das Unternehmensleitbild, das in verkürzter Form an der Wand hängt.

Ich klappe den Laptop auf und öffne das Dokument in voller Länge. Kein Wunder: „Bewusstsein“ und „Kommunikation“, zwei so wichtige Werte für das Funktionieren von Organisationen, verstecken sich in einem Unterunterkapitel. So nicht, sage ich mir. Wollen Unternehmen nicht nur am Papier zukunftsfähig sein, muss (s)ich etwas ändern.

Bewusstsein, Kommunikation, Menschlichkeit sind Stammgäste in jedem Leitbild. Ob diese Werte auch wirklich gelebt werden, steht auf einem anderen Blatt. Das führt zu Dissonanzen. Menschen fühlen sich nicht ernst genommen, resignieren und kämpfen mit mentalen Belastungen. Dass es so ist, wie es ist, kann man nicht unbedingt jemandem vorwerfen. Unsere unternehmerischen Strukturen stammen großteils aus Zeiten der Industrialisierung. In der Zwischenzeit sind wir auf dem Mond gelandet und haben das Internet erfunden. Alte Werte, Vorstellungen und Haltungen verstellen uns oft die Sicht. Nicht dass Missverständnisse aufkommen: Es braucht stabile, agile Strukturen, Change Management und Digitalisierung, um (Wandel-)Prozesse zu meistern. Allerdings dürfen wir bei all dem die wesentlichen Kräfte in unternehmerischen Erfolgsprozessen nicht außer Acht lassen: die Menschen.

Immer wieder erinnere ich mich auch in der Unternehmenswelt an Einsätze als Einsatzoffizierin beim Roten Kreuz und der Krisenintervention bei –   großen Ereignissen, wie Flüchtlingskrisen, Amokfahrten oder Bombendrohungen, aber auch an die anderen Ereignisse, wie Überbringung von Todesnachrichten, Suizide oder plötzliche Unfälle.

Die Ereignisse selbst sind in der Wirtschaftswelt nicht die gleichen. Die Unsicherheit, Unklarheit und vor allem auch die bedingte Wirksamkeit klar durchdachter Vorgaben decken sich. Die Fähigkeiten und Kompetenzen, die man zur Bewältigung von unsicheren Situationen und Krisen benötigt, sowie die Systematik robuster und gleichzeitig agiler Strukturen, die ein erfolgreiches Durchleben und Beenden der Krise ermöglichen sind auch in beiden Welten – in Unternehmen und Einsatzorganisationen – dasselbe. Und genau diese Erkenntnis bestätigt sich aus den Krisen in Unternehmen, die ich selbst miterlebt und durch die ich Unternehmen hindurchgesteuert habe.

Aus all dieser vielfältigen Erfahrung bleibt jedoch: es sind die Menschen, die Krisen meistern, nicht Strukturen, Normen und Apps – diese unterstützen. Es sind die Menschen, die immer und immer wieder aufstehen. Es sind die Menschen, die uns mit ihren Ideen nach vorn bringen. Wollen wir zukunftsfähig bleiben oder werden, müssen wir uns diese Menschlichkeit erhalten und sie fördern. Dabei unterstütze ich. Mit Erfahrung, Herzblut und – frei nach einer deutschen Punkrock-Band – einer Melodie auf den Lippen:

Es ist nicht unsere Schuld, dass die Arbeitswelt so ist, wie sie ist. Es wär nur unsere Schuld, wenn sie so bleibt.